18.08.2015

Gigantische Kulisse für brillantes Theater

Die Ruhr-Triennale feierte mit Johan Simons Inszenierung von Pasolinis „Accattone“ Premiere in der erstmals bespielten Kohlenmischhalle: Der Standort KQL bewies eindrucksvoll sein Potential. Lohberger Anwohner konnten Proben und Vorstellungen zum Sonderpreis besuchen.


Fast unendlich erscheinende Dimensionen, Schotter, Staub, Dreck, der extreme Kontrast zwischen Dunkel und Hell…die ehemalige Kohlenmischhalle, das riesige Relikt der knochenharten Arbeitswelt auf der Zeche Lohberg, erwies sich als großartige Kulisse für Johan Simons Inszenierung von Pier Paolo Pasolinis Film „Accattone“ (Bettler) als Musiktheater. Noch bis vor zehn Jahren, als die Zeche 2005 dicht machte, wurden hier Kohlen gemischt und gelagert.


Zur Generalprobe am Freitagabend war die Lohberger Bevölkerung eingeladen, wie auch zu einigen Proben davor. Am 19. und 20. August können die Anwohner zudem zwei Aufführungen zum ermäßigten Preis von fünf Euro sehen. Die ausverkaufte Premiere der Uraufführung ging am Freitagabend, 14. August, vor einem großen Publikum, darunter auch viele internationale Gäste, über die gewaltige Bühne.


Die Kontraste prallen aufeinander: Der als Theaterstück inszenierte Film von 1961 des radikal politischen Regisseurs Pasolini wird kombiniert mit der sakralen Musik von Johann Sebastian Bach. Sowohl die Kantaten des Barockmeisters wie auch der neorealistische Film dürften (nicht nur) den meisten Lohbergern fremd sein. Der niederländische Triennale-Intendant hat die Kohlenmischhalle jedoch ganz bewusst als Schauplatz gewählt. Johan Simons, der nach eigener Aussage selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammt, hat schon immer an besonderen Orten wie Fabriken und Schrottplätzen inszeniert, um die engen Grenzen des Stadttheaters zu sprengen. Auch in Lohberg war es seine Absicht, eine Brücke zu schlagen zwischen den Menschen im Stadtteil und seinem Musiktheaterprojekt, das die Aufmerksamkeit des überregionalen Kulturpublikums und der Presse für einige Wochen in den Stadtteil lenkt.


Ausdrücklich lud Simons die Bevölkerung ein sich anzusehen, wie sich sein hochkarätiges Ensemble den historischen Zechenstandort anverwandelt, wie hervorragende Schauspieler, Orchester und Sänger die 210 mal 65 Meter große Kohlenmischhalle mit ihrer Kunst beleben. Ob der Versuch gelungen ist? Sicherlich kommen die Lohberger nicht in Scharen in die Proben und Vorstellungen, und Simons weiß aus vielfacher Erfahrung, dass das auch nicht zu erwarten ist. Aber sein Angebot stand und ein Teil der Anwohner nahm es auch an, etwa bei der Generalprobe, die insgesamt etwa 800 Besucher gebannt verfolgten. Außerdem – gehört es nicht zum Wesen eines Versuchs, dass der Ausgang ungewiss ist?


„In der Kohlenmischhalle hat Johan Simons einen Ort gefunden, der ihn an Pasolinis Wüsten erinnert. In den gewaltigen Dimensionen der Industriehalle wirken die Menschen klein und verloren.“ Dramaturg Tobias Staab im Programmheft zu „Accattone“


Die enormen Dimensionen der Halle - wohl der größte aller Triennale-Aufführungsorte seit deren Gründung, schaffen eine einzigartige Atmosphäre. Die ausladende steile Zuschauertribüne steht ganz hinten in der Mega-Halle, davor erstreckt sich die karge Spielfläche mit Müll- und Überseecontainer, links befindet sIch das Podest für Kammerorchester, das fantastische Collegium Vocale Gent und die wunderbaren Gesangssolisten. Die Zuschauer blicken durch die gesamte Länge der Halle auf das Außengelände, das mit zunehmender Dunkelheit verschwimmt, scheinbar fast bis zum Horizont.


Anja Sommer, Stadtteilführerin des KQL, schildert begeistert ihren Eindruck von der Generalprobe: „Die Kohlenmischhalle war einmal mehr ein besonderes Erlebnis. Der alles beherrschende Kontrast zwischen Dunkel und Hell und die unglaublich weite Perspektive gaben dem Stück einen starken, beeindruckenden Rahmen. Die Räumlichkeit der Halle kommt für das Publikum zur vollen Geltung. Die gegenüberliegende Seite zur offenen Landschaft dient kontrastierend zur Düsternis der Halle als fast surreal anmutender ferner Ort, der zunächst ein hinteres Bühnenbild bildete, zum Schluss aber regelrecht in die Aufführung hineinschmolz.“

Accattone verachtet die Arbeit und schafft sich eine radikale Alternative


Die Hauptfigur in Pasolinis Film und Simons‘ Inszenierung, der Anti-Messias Accattone, verachtet Arbeit, er stellt sich den Bedingungen des kapitalistischen Systems diametral gegenüber. Er und seine Gefährten lehnen bürgerliche Wertvorstellungen ab und definieren sich nicht durch Besitz oder Status. Das Triennale-Stück greift damit hoch aktuellen Konfliktstoff auf, denn immer mehr Menschen lehnen die Auswüchse des Raubtierkapitalismus ab und suchen nach alternativen Lebens- und Arbeitsformen. Accattone und seine Kumpane wählen die extremste Variante, das „Subproletariat“. Sie meistern ihr Dasein nicht durch harte Arbeit wie das Proletariat, sondern folgen ihren Instinkten und kämpfen sich ohne Geld oder Anerkennung durch. Große Schauspielkunst und die perfekte musikalische Darbietung von Orchester, Chor und Solisten unter der Leitung von Philippe Herreweghe beeindruckten die Gäste sehr.


Anja Sommer, die in der Zechensiedlung lebt, sieht Parallelen des Stücks zu Lohberg. „Viele Einstellungen und Handlungsmotivationen entsprechen den Handlungsweisen mancher Bewohner des Stadtteils. Auch die Zerrissenheit des Hauptdarstellers zwischen Held und Antiheld und den vielen anderen emotionalen Facetten besonders seiner Freunde und dem brillanten Conterpart haben natürlich Parallelen zu der arbeitslosen Männerwelt Lohbergs. Die Darstellung der Frauen würde man in Lohberg anders definieren. Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Frauentypen im gesellschaftlichen Kontext treffend. Das Stück führte auf der persönlichen Ebene zu einer spiegelnden Reflexion der eigenen Ängste und Hinterfragung der eigenen Handlungsmuster - bis zum animalischen und existenziellen.“ Ihr Fazit: „ein unglaublich brillantes Stück“. Die Reaktionen von Premierenpublikum und Presse waren teils sehr positiv, teils kritisch.


Eröffnung mit Festspielrede und Diskussion: Hoch-Zeit contra Arbeitszeit


Am Nachmittag vor der Uraufführung von „Accattone“ eröffnete die Ruhrtriennale gemeinsam mit der Kulturstiftung des Bundes ihre Saison erstmals mit einer Festspielrede. Der prominente Philosoph Byung-Chul Han sprach über den Zusammenhang zwischen Kunst, Zeit und alles beherrschender Arbeitszeit. Dieser setzt er die Lebensform der „Hoch-Zeit, eine Zeit des Festes“ entgegen.


Dem Festvortrag folgte eine lebhafte Debatte über ein Leben ohne Arbeit: Ist es das Modell der Zukunft oder ganz im Gegenteil das Schlimmste, was jemandem passieren kann? Erwerbsarbeit kann in unserer globalisierten Welt nicht länger der einzige Sinnstifter unserer Existenz sein – aber was tritt an ihre Stelle? Mit WDR-Moderatorin Bettina Böttinger diskutieren Alix Faßmann, Gründerin des „Haus Bartleby, Zentrum für Karriereverweigerung“, NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin, Prof. Dr. Heinz-Josef Bontrup, Volkswirt an der Westfälischen Hochschule und Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Eyüp Yildiz, Erster stellvertretender Bürgermeister in Dinslaken und Rainer Einenkel, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender von Opel in Bochum.


Kreativ.Quartier Lohberg: zukunftsträchtiger Standort mit einzigartigen Bedingungen


Egal, ob man die Wahl der Kohlenmischhalle als Schauplatz für Johan Simons Eröffnungspremiere als ideal bewertet oder nicht: Fest steht, dass das KQL sein weit reichendes Potential mit diesem kulturellen Projekt erneut bewiesen hat. Die Umwandlung der ehemaligen Zeche zu einem lebendigen und vielfältigen Standort für Wohnen, Gewerbe, Kultur und Freizeit ist eine gewaltige Aufgabe. Die historische Stätte der Energiegewinnung durch harte körperliche Arbeit wird zu Deutschlands größtem CO2-neutralen Quartier entwickelt; regenerative Energien sollen in einer ausgeklügelten Kombination das gerade entstehende Wohnquartier sowie die angrenzenden Gartenstadt versorgen.


Für Investoren bietet dieser zukunftsträchtige Standort mit seinen einzigartigen Bedingungen zahlreiche Möglichkeiten. Detaillierte Auskunft über die Planungen finden Interessenten auf diesen Websiten:
Einführung ins Kreativ.Quartier Lohberg

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Text: Gudrun Heyder

Fotos: Julian Röder, Christian Vogler

INFO


Aufführungen Accatone: 19., 20., 22. und 23.08.2015, 20 Uhr. 

Dauer: 2 h 30 min, keine Pause.

Am Samstag, 22.08.2015, lädt Johan Simons ab 22.30 Uhr zu „Johans Saloon I“ in die Zentralwerkstatt der Zeche Lohberg ein.


www.ruhrtriennale.de